Fernpunkt

Was jeder braucht und doch keiner haben will

Kurz: Eine gleichmäßige Verteilung der Vermögen gilt als Ideal einer gerechten Gesellschaft. Eine Frage wird dabei leicht vergessen: Wäre ein solcher Zustand überhaupt stabil?

Es ist eine ganz alltägliche Situation, dass ein denkbarer Zustand zwar angenehm erscheint, aber trotzdem nicht ernsthaft als Ziel verfolgt wird, weil ihm bei aller hypothetischen Annehmlichkeit eine wichtige Eigenschaft fehlt: Stabilität. So verzichtet man zum Beispiel weitgehend auf das Beheizen von Außenbereichen, oder auf das Begrünen der Sahara, obwohl eine warme Terrasse statt einer kalten und üppiger Pflanzenwuchs statt Wüste ganz bestimmt schöne Sachen wären.

Es gibt unter dem Aspekt der Stabilität nur drei Arten von vernünftigen Zielen:

  1. Langlebige Zustände, z.B. Gebäude. Solche herbeizuführen, rechtfertigt hohe einmalige Aufwände und sonstige Unannehmlichkeiten, z.B. durch eine Baustelle.
  2. Kurzlebige Zustände, die permanent wiederhergestellt werden, z.B. Sauberkeit oder ein voller Magen. Hier muss der Wert des Zustands so groß sein, dass er buchstäblich endlose Aufwände und Unannehmlichkeiten aufwiegt.
  3. Kurzlebige Zustände, die keinen Bestand haben müssen, weil sie als Erlebnis funktionieren, z.B. eine künstlerische Darbietung.

Wenn es also um die Frage geht, ob ein Ziel vernünftig ist, spielt die Lebensdauer des Zustands eine wichtige Rolle. In vielen einfachen, alltäglichen Situationen passiert diese Erwägung intuitiv. Über komplexere Fälle muss man nachdenken.

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Devy | M. Toome | Compuinfoto | Olgalebedeva

Die Vermögen sind sehr ungleich verteilt, und es ist nicht erst der Blick auf die wirklich armen Gegenden der Welt, der das aufzeigt. Schon innerhalb einer einzelnen Industrienation wie Deutschland liegt der größte Teil des Besitzes in den Händen einer kleinen Minderheit. Der Abstand der Reichsten zum Durchschnitt ist so groß, dass keine menschenmögliche Leistung ihn je rechtfertigen könnte. Die Riesenvermögen sind, um es wohlwollend auszudrücken, in diesem Ausmaß nicht verdient, und damit widerspricht die Situation dem menschlichen Empfinden für Gerechtigkeit.

Das allgemeine Beklagen dieser Situation kommt einer Forderung gleich: der Forderung nach einer sehr viel gleichmäßigeren Verteilung der Vermögen. Aber dieser erträumte Zustand, sei er gerechter oder nicht - ist er stabil?

Es sind zwei große Teile, aus denen die gewaltigen Vermögen bestehen. Der erste Teil sind Forderungen aus vergebenen Krediten, zum Beispiel in Form von Bankkonten, von Staats- und Unternehmensanleihen. Diesen Vermögen stehen an anderer Stelle gleich große Schulden gegenüber, die Summe der beiden Billionenberge ist Null. Was man sich in Bezug auf diese Vermögenswerte unter einer gleichmäßigen Verteilung vorstellt, ist nicht ganz eindeutig - die wahrhaft gleichmäßige Verteilung wäre, dass sie zusammen mit den Schulden verschwinden. Meine Ausführungen werden sich auf das stützen, was die andere Hälfte der Riesenvermögen ausmacht; und das ist etwas, das sich sehr wohl verteilen lässt, ohne sich dabei aufzulösen.

Ich beginne meine Argumentation in einer längst vergangenen Zeit, als Vermögen eine übersichtliche Angelegenheit waren. Eine Familie, die im Altertum von der Schäferei lebte, verfügte einerseits über all die Dinge des täglichen Bedarfs, wie wir sie ähnlich auch heute kennen: Kleidung, Töpfe, eine Hütte. Andererseits hatten sie ihre Schafe. Die Schafe produzierten Fleisch, Wolle, Milch, Käse und neue Schafe. Sie waren die Produktionsgüter. Nie wäre diese Familie auf die Idee gekommen, ihre Produktionsgüter gegen Luxusgegenstände einzutauschen und sich damit ein schönes Leben zu machen, denn dieses wäre sehr kurz gewesen. Ohne die Schafe ging es nicht. Nicht einmal die ärgste aller Nöte, der Hunger, konnte die Schäfer dazu bewegen, ihre letzten Schafe zu schlachten, denn damit hätten sie ihre Existenzgrundlage zerstört. Ihr Leben lang mussten sie die Balance finden zwischen einem angenehmen Auskommen und dem Besitz an Produktionsgütern. Trotzdem sahen sie den Teil ihres Eigentums, der Schaf war und bleiben musste, nicht als Verlust an Lebensqualität, sondern als Quelle selbiger. Viele Schafe besitzen zu müssen, gehörte zu ihrer Ethik. Sie betrieben also etwa das, was heute als krankhafter Zwang reicher Raffzähne verstanden wird. Die Schafe waren das Fundament ihres Lebens, sie brachten ihnen Prestige, und am Ende gingen sie in den Besitz der Nachkommen über.

Nun haben sich die Zeiten geändert; Schafe stehen nicht mehr im Zentrum des Lebens. Die Dinge sind unübersichtlich geworden. Mit dem größten Teil der wertschöpfenden Vorgänge kommen die Menschen kaum noch in Berührung. Sie verrichten ihre Arbeit im Büro, und die fertigen Endprodukte entnehmen sie Regalen im Supermarkt oder Pappschachteln, die mit der Post kommen. Fast könnte man den Eindruck haben, Arbeitsplatz-PCs und ein paar Lieferwagen seien die wesentlichen Produktionsgüter unserer Tage. Der größte Teil der Wirtschaftstätigkeit ist aus dem Blickfeld verschwunden. Wer eine Tiefkühlpizza für 2 Euro kauft, wird eher selten darüber philosophieren, dass dieser Preis nur durch eine automatisierte Fertigung möglich ist, dass es also irgendwo einen Haufen Maschinen geben muss, der unermüdlich Pizzas knetet und belegt. Der Besitzer einer Spielkonsole oder eines Smartphones hat die gigantischen, milliardenteuren Industriekomplexe, aus denen die enthaltenen Bauteile stammen, in der Regel nie gesehen. Oder die Schiffe, die sie transportiert haben. Die Werften, auf denen diese Schiffe gebaut wurden. Die Software, die nötig war, um die hochkomplexen Halbleiterbausteine überhaupt erst einmal zu entwerfen. Unsere Produktionsgüter sind entfremdet und weit weg von uns, aber Tatsache ist: Sie sind sehr aufwändig, sehr leistungsfähig und sehr wertvoll.

Produktionsgüter gehören heute üblicherweise Unternehmen. Viele dieser Unternehmen, zumal die größeren, werden an den Börsen der Welt gehandelt. Jeder kann sich daran beteiligen. 50 Billionen Dollar in Aktien stehen hier zur Verteilung an. Doch unsere Ethik enthält keine Aufforderung zum Besitz an Produktionsgütern. Der Normalbürger besitzt sein Häuschen und verjubelt freie Einkünfte mit Reisen und schicken Autos. Um sich am Besitz der Produktionsgüter zu beteiligen, müsste er auf einen Teil seines Lebensstandards verzichten. Würde man ihm Anteile schenken, dann würde er sie verkaufen. Die Vernunft unserer Zeit ist, von Produktionsgütern zu leben, die bitteschön andere besitzen sollen. Wirtschaftsbeteiligungen werden allenfalls als Geldanlage gesehen, also schon in der Absicht gekauft, sie wieder zu verkaufen. Die wenigsten kaufen sie um des Besitzes willen. Aktien und Aktienfonds gehören zum Kontostand, und der hat keinen anderen Zweck, als sich ein schönes Leben zu machen. Wir, die modernen Durchschnittsmenschen, stehen nicht in der Tradition des antiken Schäfers. Wir stehen in der Tradition des antiken Sklaven, denn wie dieser leben wir ohne nennenswerten Anteil am Produktivvermögen. Wir leben vom Besitz anderer, das ist unsere Grundhaltung.

Deshalb würde ein Zustand, in dem jeder einen kleinen Anteil an den Produktionsgütern besitzt, nachdem er wie auch immer künstlich herbeigeführt wurde, schwerlich Bestand haben. Die Ordnung würde zerfallen, es würde eine Entwicklung einsetzen, und an deren Ende würde vermutlich ein Zustand stehen, der stabil ist.

Welcher Zustand ist das also, in dem die individuellen Anteile am Produktivvermögen relativ konstant bleiben? Damit das so ist, müssen die Besitzer der Anteile durch deren Verkauf wenig zu gewinnen haben oder auf diesen Gewinn bewusst verzichten. Es handelt sich also um eine Gruppe von

  • Bedürfnislosen,
  • Asketen,
  • Unternehmern, die mit ihren Produktionsgütern verbunden sind wie der Schäfer mit seinen Schafen,
  • Superreichen, die schon allen Luxus haben, den man in dieser Welt kaufen kann.

Sie sind diejenigen, die im stabilen Zustand die Produktionsgüter besitzen. Und sie sind eine kleine Minderheit, so wie wir es kennen.

Möglich und wahrscheinlich, dass es noch andere, vielleicht viel bestimmendere Faktoren gibt. Aber sollten diese anderen Hürden alle genommen werden, bliebe immer noch diese. Einer "gerechteren Welt" hinsichtlich der Verteilung des Reichtums steht die schlichte Tatsache im Wege, dass derjenige ein besseres Leben führt, der seinen Anteil am Produktivvermögen abbaut.

22.10.2011 (überarbeitet 08.12.2012)

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