Fernpunkt

Die Welt auf dem Konto

Kurz: Jenseits aller Erkenntnisse der Wirtschaftswissenschaften gelangt jeder Einzelne im Alltag zu einer Vorstellung davon, was Geld ist. Dieses unterschwellige Modell ist ein gutes Werkzeug für das Individuum, aber für gesamtgesellschaftliche Betrachtungen ist es unbrauchbar.

Irgendwann in der Kindheit wird ein Mensch zum ersten Mal mit jener seltsamen Sache namens Geld konfrontiert. In der Folgezeit dringt er mehr und mehr in die Geheimnisse des Konzepts ein, begreift die zentrale Bedeutung im Zusammenleben der Menschen, freundet sich notgedrungen mit den überwiegend unangenehmen Konsequenzen in Form von Einschränkungen und Notwendigkeiten an. Spätestens als Teenager ist Geld für ihn keine bloße Sache mehr, sondern es hat sich ein ganzes Denkmodell darum gebildet. Zu diesem Modell gehören bewusste und intuitive Denkweisen, die auf den Gesetzmäßigkeiten des Geldes beruhen, wie er sie durch Beobachtung erkannt hat, oder wie sie ihm beigebracht wurden.

Die wichtigste dieser Gesetzmäßigkeiten ist die einfache Austauschbarkeit der meisten Vermögenswerte. Erst durch sie ergibt die übliche Verwendung des Begriffs überhaupt Sinn. Mit "Geld" meint man ja nicht nur Münzen und Scheine. Auch ein Guthaben auf einem Girokonto ist Geld, obwohl es sich nicht um Bargeld handelt, sondern um eine Forderung gegenüber einer Bank, also eine Art von Vertrag. Aktien, wiederum etwas ganz anderes, gehören im privaten Denken ebenfalls zum Geld. Selbst Wohlstandsbesitz wie zum Beispiel ein Auto gilt als eine weitere Erscheinungsform von Geld. All diese verschiedenen Dinge mit einem gemeinsamen Oberbegriff zu versehen, ist berechtigt, denn aus der Sicht des Individuums sind sie einfach austauschbar. Alles, was man dazu braucht, ist ein Partner für einen Tauschhandel. Einer, der das Guthaben gegen Aktien tauscht, die Aktien gegen Bargeld, das Bargeld gegen ein Auto.

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Romica

Als Konsequenz dieser Gesetzmäßigkeit müssen die verschiedenen Vermögenswerte bei vielen privaten Überlegungen nicht unterschieden werden. Die Fragen "Wie komme ich zu einem Bankguthaben in Höhe von 100.000 Euro?" und "Wie komme ich zu meinem Traumsportwagen im Wert von 100.000 Euro?" sind in der Beantwortung fast identisch und lassen sich verkürzen zu "Wie komme ich zu so viel Geld?".

Eine zweite Gesetzmäßigkeit aus der Sicht des Individuums ist die relative Folgenarmut dieser Umwandlung von Vermögenswerten. Die einzige Konsequenz ist, dass man den Zugriff auf die frühere Ausformung des Geldes verliert und statt dessen nun über die neue Ausformung verfügen darf. Es ist eine rein rechtliche Veränderung; es ändert sich nur die Zuordnung von Sachen zu Besitzern, nicht aber die Beschaffenheit der Welt. Wenn jemand Aktien des Volkswagen-Konzerns verkauft, dann wird deshalb kein einziges Auto weniger produziert. Das Unternehmen bleibt bestehen, wie es ist, und mit ihm der Wohlstand, den es schafft.

Dies ist das Modell, das der Mensch aus der Erfahrung seines individuellen Lebens heraus entwickelt. Geld ist darin eine abstrakte Masse, die immer die Form annehmen kann, die man sich wünscht, und die überdies den einzigen Zweck hat, in der jeweiligen Ausformung ihren Besitzer glücklich zu machen. Dieses Denken hat sich für den Einzelnen tausendfach bewährt, und entsprechend tief ist er davon durchdrungen.

Nun gibt es für die Menschen aber auch kollektive Herausforderungen, zum Beispiel die vorteilhafte Gestaltung ihrer Gesetze mit Zielen wie Wohlstand, Stabilität und Gerechtigkeit. Solche gemeinschaftlichen Probleme werden gern diskutiert, sei es im Kreis von Bekannten oder auf öffentlichen Plattformen im Internet. Viele der Beiträge beruhen dabei auf einer bestimmten Denkweise, mal deutlich, mal verborgen: dem privaten Geldmodell.

Offenbar ist vielen Menschen nicht klar, dass dieses Modell auf der kollektiven Ebene sehr wenig taugt. Die Erfahrungen, auf denen es beruht, gelten nur für ein Individuum innerhalb einer großen Gemeinschaft, aber nicht für die Gemeinschaft als Ganzes. Die Situation ist hier eine völlig andere, in mehrfacher Hinsicht. Erstens sind Vermögenswerte nicht ohne weiteres umwandelbar, Bargeld bleibt immer Bargeld, ein Auto immer ein Auto, egal wie die Individuen hin und her tauschen. Zweitens gibt es für die Weltgemeinschaft keine Vermögenswerte außer den eigenen. Der Verzicht auf den Besitz einer Sache bedeutet den Verzicht auf ihre Existenz, mit allen Konsequenzen. Drittens wird auf dieser Ebene zum gewaltigen Irrtum, was im privaten Geldmodell, zumindest bei den Ärmeren, nur eine klitzekleine Ungenauigkeit ist: Der größte Teil der Vermögen dient mitnichten in erster Linie dazu, den jeweiligen Besitzer zu beglücken.

Schon die naheliegendsten Überlegungen, die sich aus dem privaten Geldmodell für die Gemeinschaft ergeben, sind falsch und widerlegen seine Anwendbarkeit. So sind die Fragen "Wie kommen wir zu mehr Wohlstand?" und "Wie kommen wir zu mehr Bargeld?" nicht etwa fast identisch, wie sie es für den Einzelnen wären, sondern völlig verschieden. Die Antwort auf die zweite Frage ist keine auf die erste. Mehr Bargeld ist einfach zu haben, aber das Vorgehen beschert schwerlich mehr Wohlstand; was es vor allem bewirkt, ist ein Wertverlust der Währung. Zwar ist diese Problematik allgemein bekannt, wird aber nur als verblüffendes Zusatzwissen gewertet, das die prinzipielle Denkweise in einem einzelnen Punkt korrigiert, nicht als das Beispiel, das sie ad absurdum führt.

Andere Schlussfolgerungen auf der Grundlage des privaten Geldmodells sind nicht weniger falsch. In einer freien Wirtschaft sind die Produktionsmittel in privater Hand, sie sind handelbar, und sie sind heutzutage enorm leistungsfähig und damit wertvoll. Die Besitzer haben Unmengen an "Geld". Sie haben es oft in solchen Mengen, dass es ihr Glück kaum noch nennenswert steigern kann. Nun kommt es vor, dass Nahrungsmittel nicht in ausreichender Menge produziert werden; Menschen hungern. Fehlende Nahrungsmittel sind im privaten Geldmodell nichts anderes als fehlendes Geld. Die Besitzenden horten also sinnlos Geld "auf dem Konto" und berauschen sich daran, während es anderswo Leben retten könnte. Das Denken mit dem Geldmodell des Individuums suggeriert hier eine wunderbare und einfache Lösung. Aber wie sollen die Kinder in Afrika Industrieroboter, Containerschiffe und Software-Quellcode verspeisen?

Und selbst, wenn man die Produktionsmittel tatsächlich in Nahrung umwandeln könnte, wäre es sehr zweifelhaft, ob man das auch tun sollte. Damit würden diese Produktionsmittel nämlich nicht harmloserweise in den Besitz irgendwelcher Marsmenschen übergehen und weiterhin ihren Dienst tun, sondern sie würden verschwinden und mit ihnen alle Produkte, die mit ihrer Hilfe zusätzlich hergestellt werden, darunter eventuell auch beträchtliche Mengen an Nahrungsmitteln.

Das Denken, in dem alles Handelbare gemeinsam eine große formbare Masse namens Geld bildet, ist für den Einzelnen effizient und zielführend, aber auf der kollektiven Ebene führt es in die Irre. Die Gemeinschaft hat nicht die Freiheit zu wählen, welche Form die vorhandenen Vermögenswerte annehmen. Sie kann nur bestimmen, was neu geschaffen wird.

Wer sich an Diskussionen über kollektive Probleme beteiligt, was ja durchaus löblich ist, der sollte sich gelegentlich fragen, auf welchen Grundlagen sein Denken beruht, und ob es damit für diesen Rahmen taugt. Es ist ein weiter Weg von den Weisheiten der Haushaltskasse zur Volkswirtschaftslehre.

Dort, in der Volkswirtschaftslehre, gibt es übrigens auch einen Geldbegriff und Denkweisen, die auf ihm gründen.

09.10.2011

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