Fernpunkt

Hoch lebe die kleine Idee

Kurz: Grundlegende Ideen werden überbewertet. Sie sind meistens naheliegend und nützen allein wenig. Es sind viel eher Unmengen kleinerer Ideen, denen die Menschheit ihre Errungenschaften verdankt.

Seit die Menschen erkannt haben, von welcher Natur Weltraum, Mond, Planeten und Sterne sind, träumen sie davon, selbst dorthin zu reisen. Lange Zeit gab es dazu nur versponnene Science-Fiction, in der keine reale Option lag, zum Beispiel Jules Vernes Mondreise-Kanone. Im frühen 20. Jahrhundert begannen dann einige Physiker, mit Raketen zu experimentieren und deren Potenzial abzuschätzen - und da war sie, die Grundidee: der Raumflug mittels einer Rakete. Theoretisch stand dem nichts im Weg. Aus dem, was bis dahin reine Fantasie gewesen war, machte die neue Technik ein Versprechen. Es erschienen Bücher und Kinofilme mit entsprechenden Geschichten. Bei den Anhängern der Idee entwickelte sich eine beträchtliche Euphorie und die Erwartung, dass nun in Kürze die ersten Menschen wenigstens zum nächstgelegenen Ziel im All reisen würden, dem Mond.

Auf den großen Hype folgte die große Ernüchterung. Denn die Jahre vergingen, und nichts geschah. Die Weltraum-Fans sahen das Problem bei den vermeintlich untätigen Ingenieuren, aber der Fehler lag bei ihnen selbst. Sie hatten nicht verstanden, welch geringen Anteil am Erfolg des Projekts die Grundidee ausmachte, wie wenig damit erst gewonnen war. Sie ahnten nicht den Kraftakt, der zwischen der großen Idee und ihrer Umsetzung stand. Die folgenden drei Jahrzehnte sahen keinen Menschen im All.

Welchen Wert hat eine Grundidee? Welchen Wert hat die Idee, ein bestimmtes Unterfangen anzugehen, eine bestimmte Art von Produkt zu entwickeln, ein Kunstwerk mit bestimmten zentralen Elementen zu erschaffen? Es gibt eine einfache Denkweise, die diesen Wert sehr hoch erscheinen lässt. Zu den auffälligen Eigenarten unserer Geschichte gehört ja, dass immer wieder Leistungen und Fortschritte erzielt wurden, die auf neuen Grundideen beruhten. Für jeden dieser Fälle lässt sich fragen: Warum wurde das Betreffende erst zum jeweiligen Zeitpunkt getan und nicht schon früher? Je weniger ein Mensch von der Sache versteht, umso mehr reduziert sich die Menge der Antworten, die ihm darauf einfallen, hin zu einer einzigen: Es hatte einfach zuvor keiner die Idee! Weil nun der Einzelne von den meisten Dingen wenig versteht, muss er sich entsprechend oft in diese Erklärung flüchten, was zur Verdichtung einer bestimmten Vorstellung führt.

Diese Vorstellung besteht aus zwei Teilen:

  1. Wer zuerst mit einer bestimmten Grundidee Erfolg hat, der war der Erste, der diese Idee hatte. (Erkennbar z.B. an der beliebten Frage "Warum ist darauf vorher keiner gekommen?")
  2. Der Schlüssel zum Erfolg des Einzelnen und zum Fortschritt der Gemeinschaft besteht in der guten Grundidee; der Rest des Weges ist nicht mehr als eine profane handwerkliche Umsetzung. (Erkennbar an der Bewertung der Grundidee als Geniestreich und an der extremen Verehrung historischer Personen, denen eine Grundidee zugeschrieben wird.)

Die beiden Teile begründen einander, sie lassen sich wechselseitig auseinander schlussfolgern. Wenn das erste Aufkommen einer Idee regelmäßig direkt zum Erfolg führt, dann kann es nach der Idee keine allzu hohen Hürden mehr geben, d.h. in der Idee selbst muss der Durchbruch liegen. Wenn umgekehrt in der Grundidee schon der Durchbruch liegt, dann muss sie den Ersten, der sie hat, zum Erfolg führen. Die beiden Thesen versorgen sich in einem unterschwelligen Zirkelschluss gegenseitig mit dem Anschein von Plausibilität.

Die Blüten dieser Doppelthese sind vielfältig, neben den beiden schon erwähnten etwa:

  • Die Vorstellung, der historische Fortschritt sei im Wesentlichen wenigen Berühmtheiten zuzuschreiben, eben den vermeintlichen Urhebern der Grundideen.
  • Die Verwendung des Wortes "Erfinden" für den Gesamtvorgang aus Grundidee und Umsetzung. Der Begriff stellt mit seiner sprachlichen Verwandtschaft zum "Finden", also einem kurzen und überraschenden Vorgang, durch den etwas hinzugewonnen wird, klar die Idee in den Vordergrund und nicht die Umsetzung.
  • Der Glaube, große Leistungen könnten bei einem beliebigen technischen Entwicklungsstand und in alle Zukunft von Einzelnen im Alleingang erbracht werden, wenn diese nur genial genug sind, denn es braucht zur großen Leistung kaum mehr als die Idee.
  • Die Erwartung des Erfolgs als nahezu automatische Folge der Grundidee.
  • Firmengründer, die sich auf dem Weg zum Multimillionär und Weltgestalter wähnen, weil sie sich an der Umsetzung einer mutmaßlich neuen Grundidee versuchen.
  • Die Vorstellung, gute Grundideen seien sehr selten, da sie ja zu epochalen Erfolgen führen und es solche bekanntermaßen nicht oft gegeben hat.
  • Rhetorischer Schmus wie der, jede große Veränderung begänne mit der Frage "Was wäre wenn?"

Also: Was ist richtig, und was ist Unsinn? Unbestreitbar ist die schiere Notwendigkeit der Grundidee. Ohne die Idee, ein Auto zu bauen, wird das niemals geschehen, soviel ist klar. Tatsache ist aber auch, dass ein notwendiger Faktor nicht zwangsläufig kritisch ist. Um etwa den Weltrekord im Kugelstoßen zu brechen, ist es eine notwendige Voraussetzung, zunächst die Kugel zum Stoß zu ergreifen. Es wird aber keiner diese Handlung für beachtlich halten - kritisch sind ganz andere Dinge. Es gibt viele Umstände, die für irgend etwas notwendig sind, aber im üblichen Sinne nicht bedeutend. Welcher Wert einem Faktor wirklich zukommt, hängt erstens davon ab, wie knapp dieser Faktor ist, und zweitens davon, wie weit er führt. Aber sowohl die Knappheit als auch die große Tragweite der guten Grundidee, wie sie gern angenommen werden, gehören zu den Konsequenzen der zirkelschlüssigen Doppelthese und entbehren somit jeder Begründung.

Wie die Verhältnisse wirklich liegen, ist mit Blick ins Geschichtsbuch leicht zu erkennen. Welche historische "Erfindung" man sich auch herausgreift, fast immer zeigt sich bei näherer Betrachtung, dass die Schwierigkeit mitnichten in erster Linie darin lag, auf eine Grundidee kommen zu müssen. Sei es das Automobil, die Dampfmaschine oder auch "nur" der Buchdruck mit beweglichen Lettern: Immer mussten zur Umsetzung der Idee diverse schwierige Leistungen erbracht werden. So entwickelte Gutenberg die Mechanik des Setzkastens, die Druckerpresse, spezielle Legierungen für die Stempel sowie eine geeignete Tintenmischung für den Druck. Sehr viel wahrscheinlicher als dass keiner seiner Zeitgenossen die gleiche Grundidee hatte ist, dass keiner davon sie umzusetzen vermochte. Eine Erfindung ist nicht eine schwierig zu habende Idee, sondern die schwierig zu erreichende Umsetzung einer einfach zu habenden Idee. Die Antwort auf die Frage, warum man all die Fortschritte der Geschichte nicht einfach früher gemacht hat, lautet im Allgemeinen nicht, dass die Idee so spät erst kam, sondern dass die Umsetzung der Idee so spät erst gelang.

Aber auch die Vorstellung, der Durchbruch liege in der Umsetzung der Grundidee statt in der Grundidee selbst, ist noch immer zu einfach. Vielfach tut er das nämlich nicht. Die ersten Umsetzungen einer Idee können funktionieren und doch wenig bedeutend sein, weil noch wichtige Eigenschaften fehlen - die Revolution lösen erst spätere Entwicklungsstufen aus. Carl Benz erfand nicht den kraftgetriebenen Wagen. James Watt erfand nicht die Dampfmaschine. Gutenberg erfand nicht den Buchdruck. Sie alle nahmen "nur" entscheidende Verbesserungen an den jeweiligen Technologien vor und befreiten sie damit aus einem Nischendasein. Solche Beispiele zeigen besonders gut, wie viel der Grundidee fehlt.

Und natürlich müssen wir als Bewohner einer Zeit enormer technischer Fortschritte für entsprechende Beispiele nicht im Spätmittelalter wühlen. Bei fast allen großen technischen Erfolgsgeschichten des jungen Jahrhunderts waren die ersten Umsetzungen der Grundidee so erfolglos, dass sie kaum einer kennt. Statt dessen werden spätere, bessere Umsetzungen, die größeren Erfolg hatten, fälschlich für die ersten gehalten und - wie sollte es anders sein - als "geniale Idee" bejubelt.

Wenn also die Grundidee nicht die knappe und wertvolle Ressource des Erfolgs ist, was dann? Im Allgemeinen lässt sich ein Muster wiederfinden. Um eine Grundidee umzusetzen und ihr den vollen Nutzen zu schenken, sind viele andere Ideen nötig, die weniger grundlegend sind und daher vielleicht "kleine Ideen" genannt werden können. Auch diese kleinen Ideen sind in der Regel nicht übermenschlich und erfordern mit Fachwissen und Erfahrung kein Jahrhundertgenie. Aber dieses Fachwissen und diese Erfahrung sind eben seltener als das Allgemeinwissen, das meistens genügt, um die Grundidee zu haben. Zudem sind für den Erfolg einfach viel mehr kleine Ideen als Grundideen erforderlich. Diese Umstände machen die kleine Idee knapp und wertvoll. In sie und nicht in die Grundidee fließt der größte Teil der Kraft.

Für den Außenstehenden bleiben die meisten der kleinen Ideen unsichtbar, schon alleine deshalb, weil er sie gar nicht verstehen würde. Sichtbar ist für ihn vor allem die Grundidee. Die Freude über eine "geniale Idee" ist oft nichts anderes als die Beschreibung eines großen Aufwands im Munde von einem, der von diesem Aufwand nichts ahnt.

Im Falle der berühmten Erfinder waren die jeweiligen Technologien in einem so frühen, einfachen Stadium, dass alle kleinen Ideen, die für die nächste Entwicklungsstufe noch fehlten, von einer einzelnen Person eingebracht werden konnten. Dieser Phase entwachsen Technologien aber schnell, und dann ist kein Raum mehr für berühmte Einzelpersonen, egal, welche gigantischen Fortschritte noch erzielt werden. Zu viele Personen tragen ihre kleinen Ideen bei. In einem Smartphone stecken viele Millionen von kleinen Ideen, viele davon schwieriger zu haben als die Idee des Smartphones selbst. Es ist wahr, dass der Fortschritt nur wenige Menschen berühmt macht, aber der Grund ist nicht, dass ein paar wenige Menschen unendlich mehr als alle anderen zum Fortschritt beitragen. Der Fortschritt der Menschheit ist nicht das Werk von Einzelnen, sondern von Hunderttausenden, vermutlich Millionen von Menschen. Würde man Gutenberg, Watt und Benz aus der Geschichte entfernen, dann würde sich an der Welt vielleicht gar nicht viel ändern. Irgendwann später wären ihre Beiträge in ähnlicher Art von anderen Personen oder Gruppen geleistet worden. Würde man dagegen die hunderttausend namenlosen Forscher und Tüftler aus der Vergangenheit eliminieren und nur die Berühmtheiten wirken lassen, dann bliebe: nichts.

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F. Gallardo Garcia | M. Dietrich

Leider ist die verfehlte Vorstellung von der entscheidenden Grundidee längst dabei, sich über die Grenzen der Technik hinaus in andere Bereiche auszubreiten. In der Kunst führt sie zu unplausiblen Bewertungen und zu Werken, die von der Mehrheit nicht mehr als Kunst akzeptiert werden. Auch kommt es zu kuriosen Streitereien um Ideen und Plagiate - natürlich: Wenn ein Werk aus kaum mehr besteht als einer einzelnen Idee, dann bedeutet das Aufgreifen dieser Idee durch andere schon fast den Diebstahl des gesamten Werks. Wie absurd eine so hohe Bewertung der Grundidee in Bezug auf Kunst ist, wird spätestens dann deutlich, wenn man sie auf historische Werke anwendet. Leonardo da Vincis Hauptverdienst an seiner "Mona Lisa" müsste demnach in der Idee bestanden haben, eine sanft lächelnde Frau zu malen. Michelangelos berühmte Deckengemälde in der Sixtinischen Kapelle waren eine Auftragsarbeit. Er hatte also gar nicht selbst die Idee, diesen Bereich mit Szenen aus der Bibel zu bemalen. Dem Kult um die Grundidee folgend, war er damit nicht mehr als ein Handwerker, der die geniale Vision eines anderen zünftig umgesetzt hat.

Die Wahrheit dürfte sein, dass auch die Kunst von den kleinen Ideen lebt, wobei das Verhältnis zur Grundidee dem in der Technik ähnlich ist. Nicht jede kleine Idee verbessert das Ergebnis; die kleine Idee muss zum Projekt passen. Und es nützt nichts, die Grundidee über das ideale Maß hinaus mit kleinen Ideen zu beladen. Keinesfalls taugt die schiere Zahl der umgesetzten kleinen Ideen als Maßstab zur Bewertung des Geschaffenen. Aber allein ist die Grundidee wenig wert und verdient es selten, gefeiert zu werden.

Die kleine Idee ist nicht wichtiger als die große. Nur gemeinsam können große und kleine Ideen die Welt verändern. Wohl aber sind es die kleinen Ideen in ihrer großen Zahl, die unsere Hauptaufgabe ausmachen.

Im Sommer 1969 gab es einen Erfolg zu vermelden: Der erste Mensch setzte seinen Fuß auf den Mond. Die Maschine, durch die er dorthin gelangt war, hatte mit den einfachen Raketen der frühen Pioniere nur noch das Funktionsprinzip gemeinsam. Sie war ein monströses Gebilde, hoch wie ein 30-stöckiges Haus, zusammengesetzt aus 700 000 Baugruppen - jede eine kleine Idee.

20.12.2014

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