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Vom bewussten Umgang mit begrenzter Intelligenz

Kurz: Die menschliche Intelligenz ist - wie jede durch Evolution entstandene Fähigkeit - ein Kompromiss und somit nur begrenzt leistungsfähig. Lässt sich dem Rechnung tragen? Wie kann eine Gemeinschaft geschickt mit begrenzter Intelligenz umgehen?

Es gibt wohl kaum einen Menschen jenseits der 30, der noch der kindlich-euphorischen Vorstellung anhängt, zumindest die Gesunden unter den Erwachsenen seien gewissermaßen "vollständig" intelligent. Zu zahlreich sind die Fälle erwiesenen Schwachsinns, in fremdem Denken ebenso wie in eigenem.

Bei manchen der Fehler handelt es sich um individuelle Dummheiten, viele andere sind schon im System des menschlichen Denkens angelegt. Beispiele, die solche systematischen Denkfehler aufzeigen, nennen wir "Paradoxe"; wir sehen etwas Mystisches in ihnen, halten sie geradezu für Fehler in der Welt. Aber darin zeigt sich nur einmal mehr, wie sehr wir uns selbst zum Maß der Dinge machen. Wenn die Realität nicht der Erwartung entspricht, dann ist natürlich nicht die Realität falsch, sondern die Erwartung. Jedes Paradox korrespondiert mit einer typischen Fehlleistung unseres Verstandes. Nicht die Welt hat die Paradoxe im Schlepptau, sondern der Mensch - für ein unendlich intelligentes Wesen gäbe es etwas derartiges gar nicht. Die Liste der Paradoxe ist nicht nur schier endlos lang, sie zeigt auch, welch erschreckend einfache Konstellationen genügen, um den Verstand aufs Glatteis zu führen. Wann immer in einem Bereich Alltagsnähe bei geringer Alltagserfahrung und exakte wissenschaftliche Ausleuchtung aufeinandertreffen, so zum Beispiel in der Wahrscheinlichkeitsrechnung oder der Spieltheorie, wimmelt es von Paradoxen.

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S. Schubanz | Jokerproproduction

Begrenzte Intelligenz ist die natürlichste Sache der Welt. Der Spatz hat sein Spatzenhirn, und er darf sich glücklich schätzen, genau dieses Denkorgan zu haben und kein anderes. Eine Katastrophe wäre für ihn das Gehirn des Menschen - Gewicht und Energieverbrauch wären des Spatzen Untergang. Nicht irgendeine unerklärliche Laune der Natur ist es, die den Spatzen von der Intelligenz des Menschen fernhält, sondern es sind verheerende Nachteile. Intelligenz ist teuer, deshalb gibt es für jedes Tier ein ideales Maß davon - ein Zuwachs zum Preis entsprechend vermehrter Gehirnmasse wäre ebenso nachteilig wie ein Absinken zum Preis weniger klugen Verhaltens. Natürliche Intelligenz ist ein Kompromiss, gefunden im ewigen Spiel von Variation und Selektion, und auch unsere Intelligenz ist von dieser Art. Selbstverständlich ist sie begrenzt. Wir haben das Maß und die Art von Intelligenz, wie sie für unsere Vorfahren optimal waren, um Nahrung zu beschaffen, Konkurrenten aus dem Weg zu räumen und Partner für die Fortpflanzung zu gewinnen. Was uns die Illusion einer vollständigen Intelligenz gibt, ist nur die Gnade der Abwesenheit intelligenterer Wesen im uns bekannten Universum.

Die Begrenztheit der Intelligenz gehört zu den bestimmenden Faktoren des menschlichen Daseins. Sie hat massive Konsequenzen dafür, welche Konzepte erfolgreich sind und welche nicht. Dass wir im Alltag eher selten über unsere Beschränktheit nachdenken und trotzdem ganz gut zurecht kommen, liegt schlicht daran, dass der größte Teil unseres Verhaltens die Problematik schon berücksichtigt, auch ohne dass wir uns dessen bewusst sind.

Unsere Vorfahren hatten keinen größeren Verstand als wir, deshalb sind all die instinktiven Herangehensweisen, mit denen uns die Evolution ausgestattet hat, auf dieses bescheidene Maß an Intelligenz abgestimmt. Dazu gehört vor allem ein Wesenszug, der uns zur Schande gereichen würde, wenn unsere Intelligenz tatsächlich vollständig wäre, nämlich der, der eigenen Überlegung kein allzu großes Gewicht zu geben.

Das gilt zum Beispiel gegenüber der Erfahrung. Sie ist ein mächtiges Werkzeug, um den schwachen Verstand zu unterstützen. Oft ist es gar nicht nötig, sich etwas zu überlegen, denn man erlebt, wie sich die Dinge verhalten. Wenn die Erfahrung der Erwartung widerspricht, dann geben wir die Überlegung, die zu dieser Erwartung geführt hat, schnell auf. Das tun wir selbst dann, wenn wir in der Logik der Überlegung keinen Fehler erkennen, sie also eigentlich weiterhin für zutreffend halten müssten. Das Erlebte hat Vorrang vor dem Geschlussfolgerten. Deshalb stammen viele unserer Überzeugungen aus der Erfahrung, und nicht selten widersprechen sie dem, was wir ohne diese Erfahrung erwarten würden. Die Welt ist voller Wunder, an die wir uns einfach von klein auf gewöhnt haben. Paradoxe sehen wir nur noch dort, wo uns die Erfahrung fehlt.

Auch eine zweite Macht lässt den Verstand sehr schnell klein beigeben: die Meinung anderer. In der Jugend ist es hauptsächlich der Einfluss von Autoritäten wie Eltern, Lehrern oder den Wortführern in der Clique, der uns die Wahrheit vorgibt. Später dann nimmt diesen Platz zunehmend die vorherrschende Meinung ein. Fremde Ansichten sagen uns, was unsere Überzeugung sein muss. Sie setzen Gebote und Tabus. Eigene Gedanken, deren Ergebnisse dem widersprechen, nehmen wir nicht als richtig wahr. Wir ersticken sie im Keim, sobald sich abzeichnet, dass sie die vermeintlich falsche Richtung nehmen.

Man mag darüber streiten, ob wir die eigene Überlegung nicht viel schneller fallen lassen, als es nötig wäre. Zudem ist der Vorteil für das Individuum nicht unbedingt auch ein Vorteil für die Gemeinschaft. Der Philosoph Søren Kierkegaard formulierte einst zornig: "Es leben in jeder Generation wohl kaum Zehn, denen am meisten davor angst ist, eine unrichtige Meinung zu haben; aber es leben Tausend und Millionen, denen vor allem davor angst ist, mit einer Meinung allein zu stehen, und wäre es auch die richtige." Angst ist ein Instinkt, und jeder Instinkt hat irgendeine Art von Berechtigung. Dem eigenen Verstand nicht zu trauen, wenn ihm eine überwältigende Mehrheit von Andersdenkenden gegenüber steht, kann vor Fehlern bewahren. Wie zu jeder Angst gibt es auch zu dieser den Mut, sie zu überwinden. Er kann belohnt oder bestraft werden.

Natürlich ist die fremde Meinung kein so leistungsfähiges Korrektiv wie die Erfahrung, denn sie beruht ihrerseits auch nur auf beschränkter Intelligenz. Sie schützt nur vor persönlichen Ausrutschern, nicht vor systematischen Fehlern im menschlichen Denken nach Art der Paradoxe.

Der instinktive Teil unseres Verhaltens wird dem Problem der begrenzten Intelligenz also durchaus gerecht. Nicht viel anders verhält es sich mit dem Rest. Die Konzepte, die wir als Individuen und als Gemeinschaft betreiben, zum Beispiel in der Technik oder bei der Organisation, haben sich gegen andere Konzepte durchgesetzt. Man hat schlicht bessere Erfahrungen mit ihnen gemacht. Warum diese Konzepte überlegen sind, ist uns nicht bis in jede Einzelheit bekannt, aber sie sind es unter der Gesamtheit der gegebenen Umstände, darunter auch diesem. Wenn wir intelligenter wären, würden wir vermutlich manches anders tun - nicht, weil wir die jeweilige Vorgehensweise dann endlich als richtig erkennen würden, sondern weil sie erst bei höherer Intelligenz hinreichenden Erfolg hat, um andere zu übertreffen.

Die Relevanz der Einsicht in die Grenzen des menschlichen Verstandes liegt also weniger darin, dass wir sofort unser Alltagsverhalten in irgendeiner Weise ändern müssten. Das heißt aber nicht, dass solche Gedanken rein akademisch sind. Wir hoffen für die Zukunft auf weiteren Fortschritt. Um Fortschritt zu erreichen, müssen wir mit neuen Konzepten experimentieren, in der Hoffnung, dass sie sich als vorteilhaft erweisen. Je größer die Übereinstimmung ist zwischen den Konzepten, die wir ausprobieren, und denen, die tatsächlich überlegen sind, desto schneller verläuft die Entwicklung zum Besseren. Diese Übereinstimmung ist umso größer, je besser wir die Dinge verstehen - das ist der Grund für alles Forschen.

Unbewusste Antworten helfen uns dabei nicht. Ein Mensch kann in seinen Praktiken den beschränkten Verstand bestens berücksichtigen und in der Diskussion doch so argumentieren, als sei Intelligenz in der Welt der Menschen eine unbegrenzt verfügbare Ressource, vorhanden in ausreichender Menge für die Bewältigung beliebig schwieriger Aufgaben. Auf Fehleinschätzungen folgen oft schlechte Ideen. Deshalb ist es wichtig, die Überlegungen weiter zu führen und auch auf der bewussten Ebene die Konsequenzen aus der Begrenztheit der eigenen Intelligenz zu ziehen.

(Fortsetzung in Teil 2)

07.11.2011

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